Abneigung, Entfremdung, Zerrüttung. Man kann über den zutreffenden Begriff dafür streiten, was die Meinungsforscher
gerade an Werten zum Verhältnis von Bürgern und Politik gemessen haben.
Das Sich-Abwenden vieler Bürger von der politischen Klasse ist kein neues Phänomen, eher eine seit einem
guten Jahrzehnt zu beobachtende Entwicklung, für die man einst den Begriff Politikverdrossenheit fand.
Nur wurde in den letzten Tagen und Wochen das Gefühl vieler Menschen, dass sich die poitisch Handelnden
von ihrer Lebenswelt abgekoppelt hätten, zusätzlich noch genährt durch Bilder, in denen sich die Staatsmacht wie in Stuttgart
von einer besonders hässlichen Seite zeigte.
Stuttgart 21 ist freilich ein Symbol. Wenn weit über die regionale Bedeutung hinaus das umstrittene
Bahnhofsprojekt die Deutschen so beschäftigt, dass sie mehrheitlich mit den Demonstranten sympathisieren, dann kann das nur
mit einer politischen Grundstimmung zu tun haben, die sich seit Beginn der Wirtschafts- und Finatkrise verschärft hat.
Da haben viele Menschen das Vertrauen in die Eliten generell verloren. Dass 98 PrOsent der Befragten
im aktuellen ARD-Deutschlandtrend fordern, die Politik müsse wieder stärker den Kontakt zum Volk suchen, ist eher der hilflose
Ausdruck eines Ohnmachtgefühls und gleichzeitig eine besonders in den Mittelschichten verbreitete Rechtfertigung dafür, dass
man sich einer sich entwickelnden Dagegen-Kultur angeschlossen hat.
Dass die Politik sicherlich überraschende neue Phänomen ist dabei, dass gerade auch Menschen aus besseren
Stadtvierteln, die für Demonstranten noch vor wenigen Jahren eher kopfschütteln und Verachtung denn Verständnis aufbrachten,
nun auf der Straße mitmarschieren.
Das aber zeigt, dass diejenigen wohl recht behalten haben, die auf dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise
vor schwerwiegenden Folgen, die weit über das Ökonomische hinausgehen, gewarnt haben.
Für den renomierten Bielefelder Soziologen und Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer, der set 2002 systematisch
die "Deutschen Zustände" untersucht, frisst sich Angst in die deutsche Gesellschaft hineien - Angst vor der Zukunft, Angst
vor dem eigenen sozialen Abstieg.
Noch reagieren viele Menschen mit einer Art Aufspaltung der Ängste und Sorgen: Sie sehen ihre eigenen
Situation verhältnismäßig positiv, empfinden die Lage insgesamt aber als belastend, stellen folglich zunehmend den gesellschaftlichen
Zusammenhalt infrage. So äußerten im vergangenen Jahr in einer Befragung durch das Heitmeyer-`Teeam 65 Prozent derjenigen,
die sich von der aktuellen Krise selbst betroffen fühlten, dass in Deutschland zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden
müssen. Auffallend ist auch, dass sich Angehörige der Mittelschicht noch starker von der Krise bedroht fühlen als Befragte
aus unteren sozialen Schichten.
Befürworter einer direkten Demokratie setzen auf Volksbegehren und Volksentscheide als Allheilmittel
gegen den sich ausbreitenden Anti-Politik-Virus. Es ist aber, sieht man sich die geringe Beteiligung an solchen Abstimmungen
vielerorts an, eher eine gegenteilige Entwicklung zu beobachten. Viele Menschen bleiben abseits stehen.
So hat, wie bei der Volksabstimmung über das Hamburger Schuisystem, eine gutsituierte Minderheit Erfolg
gehabt, weil die Mehrheit zu Hause blieb. Und gegen die wachsende Abstiegsangst einer alternden Gesellschaft, die eine Abneeigung
gegen alles Neue und Fremde entwickelt, Inklusive wachsender Islamphobie in ganz Westeuropa, helfen keine Volksentscheide,
sondern nur das Engagement in Verbänden und Parteien.