Es rumort in Deutschlands Kommunen
Staatliches Unverständniss für Bürgerproteste wie gegen das umstrittenen Bauprojekt
Stuttgart 21 entfremdet nach Ansicht von Manfred Güllner die Bürger von den Politikern.
Dieses Unverständnis erleben und erlebten wir aktuell zum Thema "Kreisel" auch in Achim!
Die Hamburger haben ihren Politikern ziemlich deutlich gezeigt, was sie davon halten, eine
Schulreform einfach so aufgedrückt zu bekommen.
Die Stuttgarter zeigen gerade, dass nicht jedes
städtebauliche Projekt umzusetzen ist, ohne die Bürger nach ihrer Meinung zu fragen.
Und die Berliner
haben vor zwei Jahren mächtig Rabbatz wegen ihres Flughafens Tempelhof gemacht.
Für den Meinungsforscher
Manfred Güllner, Chef des Forsa-Instituts, zeigt sich an diesen Beispielen ein Trend, den er die Missachtung der Kommunalpolitik
nennt. Im Gespräch mit Günther Hörbst plädiert er für eine Renaissance des Lokalen.
Frage Günther Hörbst:
Herr
Güllner, dass Projekt Stuttgart 21, die Bildungsreform in Hamburg - viele Bürger haben offenbar den Eindruck, dass die Politik
sie nicht mehr einbezieht in Entscheidungen, sie sozusagen von ferne, oft aus Berlin, zu etwas zwingen will. Ist die Politik
inzwischen zu weit weg von den Bedürfnissen der Bürger?
Antwort Manfred Güllner:
Das ist sicher
so. Allerdings sollte mag das Problem nicht auf das sogenannte Raumschiff Berlin verengen. Diese Abwertung, diese Pervertierung
der Kommunalpolitik begann schön viel früher. Die Parteien, allen voran die SPD, haben schon in den 7Oer-Jahren angefangen,
in den Kommunen keine Realpolitik mehr zu betreiben, sondern nur noch ideologische Konflikte auszutragen.
Frage
Günther Hörbst, wie ist das passiert?
Antwort Manfred Güllner:
In den 70er Jahren strömten viele
Vertreter der überbildeten Mittelschichten über die Kommunalparlamente in die SPD. Sie versuchten, die Partei über die Kommunen
wieder zu ideologisieren. Die Kommunalpolitik wurde schlicht dazu, missbraucht. Sie wurde regelrecht für diese Zwecke ausgehöhlt.
Die Partei hat dann zum Teil völlig überzogene, von den Bürgern vor Ort auch nicht unterstützte, Symbolpolitik betrieben:
Denken Sie nur an die atomwaffenfreien Zonen, die hie und da geschaffen wurden. Die Bürger fassten sich an den Kopf!
Frage
Günther Hörbst:
Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Politik so von der Basis entfernte?
Antwort
Manfred Güllner:
Daran hatten beide großen Parteien Anteil. Die SPD vielleicht noch etwas mehr, weil für sie die Verankerung
in der Kommune lange Zeit wichtiger war. Die CDU war immer schon mehr an der zentralistischen Macht interessiert. Erst als
sie die Macht in Bonn verlor, hat sie die Kommunalpolitik wiederentdeckt. Aber nur als Mittel zum Zweck. Das waren die beiden
großen Parteien. Das wurde lange nicht sichtbar. Inzwischen sind die Stimmenverluste aber so groß, dass es nicht mehr verborgen
bleiben konnte.
Frage Günther Hörbst:
Die Bürger wollen also keine „große Politik” in
ihren Rathäusern....
Antwort Manfred Güllner:
... auf der Ebene der Bundespolitik kann man mit
ideologischen Kategorien wie Freiheit oder Sozialismus arbeiten. Auf der Kommunalebene geht das nicht. Da muss man sich um
die vielen kleinen Probleme vor Ort kümmern. Den Laubhaufen vor der Tür, der Dreckhaufen vor der Schule. Das ist Kärrnerarbeit.
Man muss aber auch Leute haben, die diese Probleme erkennen, indem sie mit den Leuten reden.
Frage Günther
Hörbst:
Haben die Parteien solche Leute?
Antwort Manfred Güllner:
Jetzt nicht mehr.
Frage
Günther Hörbst:
Trifft das flächendeckend zu?
Antwort Manfred Güllner:
Natürlich. Das betrifft
fast jede Kommune heute. Heute hat keine Partei mehr richtig gutes Personal vor Ort. Die Kommunalpolitik wird ja geradezu
geächtet. Das Personal ist extrem ausgedünnt.
Frage Günther Hörbst:
Viele Kommunen haben ihr Wahlrecht
geändert, mehr direktdemokratische Elemente eingebaut. Man wollte damit Bürgernähe demonstrieren. Auch in Bremen wird man
bei der Wahl im Mai 2011 fünf Stimmen abgeben können. Was halten Sie von diesen Entwicklungen?
Antwort
Manfred Güllner:
Dieses Herumexperimentieren an den Wahlsystemen hat nichts gebracht. In Hessen ist die Wahlbeteiligung
nachdem das etablierte Verhältniswahlrecht abgeschafft wurde. Warum hat man in Bremen nicht auf Hessen geschaut und die Folgen
dort analysiert?
Ich verstehe nicht, warum man glaubt, dass mit scheinplebiszitären Elementen Politikverdossenheit
abgebaut werden kann. Das Gegenteil ist der Fall. Die Bürger wollen in regelmäßigen Abständen wählen. Aber nicht so kompliziert.
Frage
Günther Hörbst:
Stimmt der Eindruck, dass die Bundespolitik, die sich im Radius einiger hundert Meter um den Reichstag
in Berlin abspielt, das als die Realität in Deutschland wahrnimmt und nicht so sehr das, was in den Städten und Regionen passiert?
Antwort
Manfred Güllner:
Das ist richtig. Ich hatte jedoch geglaubt, dass dis Politik mit dem Umzug von Bonn nach Berlin eher
wieder mit dem realen Leben konfrontiert wird. Dass genau das Gegenteil passieren würde, hätte ich nie gedacht. In Bonn war
es nämlich so, dass die Politiker am Donnerstag, spätestens Freitag in ihre Heimat gefahren sind und das reale Leben erfahren
haben. Heute bleiben sie in Berlin. Das gilt übrigens auch für die Journalisten. Das heißt: Man lebt in den eigenen Zirkeln,
lernt dadurch das reale Leben nicht mehr kennen. Der Berliner Politikbetrieb ist inzwischen abgekoppelt von dem, was wirklich
zählt. Die wahren Probleme der Bürger werden ausgeblendet.
Frage Günther Hörbst:
Sieht die politische
Klasse eigentlich dieses Problem?
Antwort Manfred Güllner:
Nein. Eine Renaissance der Lokalpolitik,
die ich für dringend erforderlich halte, wird von keiner Partei wirklich angestrebt. Die großen Parteien haben nur die Chance,
sich zu regenerieren, wenn sie das von der Basis her machen. Sie müssen auf der Kommunalebene wieder in Kontakt zu Bürgern
kommen. Stuttgart 21 ist so eskaliert, weil die Politik mit den Bürgern nicht mehr den Dialog gesucht hat. Die Politiker reden
nicht mehr mit den Menschen, sondern nur noch mit den Vertretern ihrer eigenen Zirkel. Die Bodenhaftung ist der politischen
Klasse völlig verloren gegangen.
Frage Günther Hörbst:
Was ist die Folge dieser Entwicklung?
Antwort
Manfred Güllner:
Wenn siech die gegenwärtigen Trends fortsetzen, sehe ich ziemlich schwarz. Etwa, dass die die Wahlsysteme
weiter verklompiziert werden, oder dass Wahlcomputer eingesetzt werden. In Köln wurden die Wahlbezirke von 834 auf 600 reduziert.
Das bedeutet längere Wege für die Bürger zum Wahllokal - das steigert die Tendenz zur Wahlenthaltung. Das sind alles Irrsinns-Entscheidungen.
Die Politik muss da dringend gegensteuern. Die Parteien können nur über die Kommunen an die Bürger wieder herankommen. Über
die klassischen Parteimitglieder, die zudem immer weniger werden, bekommen sie das nicht mehr hin. Das kann nur über die gewählten
Mandatsträger geschehen.
Frage Günther Hörbst:
Aber es ist doch kaum noch jemand bereit, solche
Mandate zu übernehmen.
Antwort Manfred Güllner:
Aber nicht, weil die Menschen nicht bereit zu
politischem Engagement wären. Das belegen regelmäßig unsere Umfragen. Die Menschen werden abgeschreckt von den Ritualen der
politischen Parteien, durch die falsche Professionalisierung. Die Parteien haben eine Pervertierung der Kommunalpolitik herbeigeführt.
Und jetzt beschimpfen sie die Bürger, dass sie nicht mehr teilnehmen. Das ist grotesk.
Quellenangabe:
Mit
freundlicher Genehmigung von Herrn Hörbst - Leiter der Wirtschaftsredaktion des Weser-Kurier, Bremen.
An dieser Stelle noch einmal recht vielen Dank!
Interview mit Herrn Günther Hörbst,
Weser-Kurier und Prof. Manfred Güllner, forsa, Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH, Berlin.
Zur Person: Manfred Güllner ist Soziologe, Sozialpsychologe und Betriesbswirt. Seit 1984 leitet er das von ihm gegründete
Forsa-Institut, das neben Emnid, Allensbach und infratest dimap in Deutschland führend ist.
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