Die klassische Staatslehre unterscheidet zwischen drei Staatsgewalten, der ersten Gewalt
(gesetzgebende Gewalt = Legislative = Parlament), der zweiten Gewalt (ausführende Gewalt = Exekutive, bestehend aus Regierung
und Verwaltung) und der dritten Gewalt (rechtsprechende Gewalt = Judikative = Richter).
Die erste Gewalt stellt die Spielregeln (Gesetze) auf, nach denen der Staat funktionieren
soll und denen alle unterworfen sind (vgl. Art 20 Grundgesetz).
Die zweite Gewalt handelt praktisch im Rahmen der Gesetze (macht die Politik, führt die
Gesetze aus).
Die dritte Gewalt (vgl. Art. 92 Grundgesetz) wacht darüber, dass die Gesetze eingehalten
werden (beispielsweise auch darüber, dass sich die zweite Gewalt an die von der ersten Gewalt festgelegten Spielregeln hält).
Das Zusammenspiel der drei Staatsgewalten setzt voraus, dass keine über die anderen die
Oberhand gewinnt und sie beherrscht. Andernfalls hätte man nicht mehr eine Aufteilung der Staatsgewalt auf drei verschiedene
Machtträger, sondern die Alleinherrschaft einer einzigen Gewalt, was die Gewaltenteilung gerade verhindern soll.
Im Jahre 1532 veröffentlichte der Italiener Niccolò Machiavelli sein Werk "Der Fürst".
Es war eine Bedienungsanleitung für machtorientierte Politiker.
Hieraus ein Zitat: "....Die Handlungen aller Menschen und besonders die eines Herrschers,
der keinen Richter über sich hat, beurteilt man nach dem Enderfolg. Ein Herrscher braucht also nur zu siegen und seine Herrschaft
zu behaupten, so werden die Mittel dazu stets für ehrenvoll angesehen und von jedem gelobt. Denn der Pöbel hält sich immer
an den Schein und den Erfolg; und in der Welt gibt es nur Pöbel...".
Die Ratschläge Machiavellis sind bis zum heutigen Tage eine Versuchung für jeden Karrierepolitiker
und für manchen die konkrete Handlungsanweisung.
Politische Denker der Aufklärung suchten immer wieder den allgegenwärtig drohenden Schatten
Machiavellis zu bannen, nicht zuletzt um die Freiheit des Menschen vor den jeweils Mächtigen zu schützen.
So entstanden die modernen Ideen von Rechtsstaat und Gewaltenteilung. Der Engländer John
Locke, der Franzose Charles de Montesquieu und der Deutsche Immanuel Kant gehörten zu ihren Verfechtern. Der Rechtsstaat wurde
auf Beine gestellt. Auf drei Beine.
Gewaltenteilung ist ein Strukturprinzip, ein Bauteil für die Staatsordnung, das deren Funktionieren
in einer bestimmten Weise beeinflussen soll.
Wer für die Verteilung der staatlichen Gewalt auf unterschiedliche Organe des Staates ist,
erstrebt damit die Bändigung der Macht des Staates durch ein System des Miteinanders und des Gegeneinanders, des Zusammenwirkens
und des Kontrollierens von und durch diejenigen, denen die Macht anvertraut ist.
Warum soll Macht gebändigt werden?
Dies soll Freiheit ermöglichen und auf Dauer sichern sowie bessere Sachentscheidungen zeitigen.
Wenn Gewaltenteilung ein Strukturprinzip ist, ist sie dann nicht nur ein akademisches Problem,
eben für Akademiker?
Dass dem ganz und gar nicht so ist, ergibt sich schnell mit der Überlegung: was wäre ohne
Gewaltenteilung?
Die jüngere Geschichte bietet abschreckende Beispiele: Weder das Nazi- noch das SED-Regime
wollten von Gewaltenteilung etwas wissen und dies hat die konkreten Lebensverhältnisse vieler, wenn nicht sogar aller Menschen
nachhaltig beeinträchtigt.
Wie steht es mit der Gewaltenteilung in Deutschland?
Welche Tradition hat sie?
Wie ist sie in der Ordnung des Grundgesetzes installiert worden?
Wie wird sie gelebt?
Wird sie unterlaufen, wird sie überformt?
Wie haben sich die einzelnen Gewalten entwickelt?
Manche klagen, dass der Staat des Grundgesetzes zu einer Beute der Parteien, dass er vor
allem und zunächst Parteienstaat geworden ist.
Belegen die Befunde im Bereich der Gewaltenteilung eine solche Feststellung?
Haben die Parteien es geschafft, die Gewaltenteilung zu unterminieren und auf diese Weise
Macht, die von unterschiedlichen Machthabern ausgeübt werden soll, doch wieder in einer oder in ganz wenigen Händen zu vereinen,
in die sie nicht gehört?
Hierzu zwei Zitate:
a. Im Jahre 1966 glaubte Karl Jaspers eine Fehlentwicklung in Deutschland feststellen zu können (Buchtitel:
"Wohin treibt die Bundesrepublik?"):
"....Was wollen wir durch die Bundesrepublik? Stauffenberg faßte kurz vor
seinem Attentat [auf Adolf Hitler] das Ziel in einen Satz: »Wir wollen eine neue Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des
Staates« macht und ihnen »Recht und Gerechtigkeit« verbürgt." Was hat die Bundesrepublik von diesem Ziel verwirklicht?....
[....]
....Auf die Frage, ob unser Staat eine Demokratie sei, pflegt die Antwort selbstverständlich
zu sein: Ja, eine parlamentarische Demokratie. Das Grundgesetz bezeugt es: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus« (Artikel
20). Wie aber sieht das in der Realität aus? Die Verfasser des Grundgesetzes scheinen vor dem Volke Furcht gehabt zu haben.
Denn dieses Gesetz schränkt die Wirksamkeit des Volkes auf ein Minimum ein. Alle vier Jahre wählt es den Bundestag. Die ihm
von den Parteien vorgelegten Listen oder Personen sind schon vorher durch die Parteien gewählt.....Die Parteien, die keineswegs
der Staat sein sollten, machen sich, entzogen dem Volksleben, selber zum Staat....Der Staat, das sind die Parteien. Die Staatsführung
liegt in den Händen der Parteienoligarchie. Sie usurpiert den Staat....Ihre durch keine Spannung zu anderer Macht eingeschränkte
Stellung verführt....die Parteien wollen durch ihre eigenen Leute die Plätze besetzen. Das ist der Lohn für die Parteiarbeit,
die Beute des Siegers nach der Wahlschlacht....".
b. Zur "Dritten Gewalt":
"....es geht darum, aufzudecken, daß die Selbständigkeit der Gerichte in
Deutschland ein Schein ist, hinter dem eine andere rechtliche und oft auch tatsächliche Wirklichkeit steht. Dieser Schein
ist historisch entstanden. Man hat sich an ihn gewöhnt....Die Gewaltentrennung im heutigen staatsrechtlichen Sinne besagt,
daß Legislative, Exekutive und Rechtsprechung von verschiedenen Organen wahrzunehmen sind. Daraus folgt zunächst, daß diese
Organe selbständig sein müssen, d. h. ihr Eigenleben in sich tragen, ohne in ihrem Seinsbestand von einer der anderen Gewalten
abzuhängen.... Diese [die deutsche] Justizverwaltung ist aber....im wesentlichsten Teil, nämlich in der Spitze, den Gerichten
entzogen und in die Hand der Exekutive gelegt. Das hebt....den Seinsbestand der Dritten Gewalt auf und macht ihn zur Fiktion
trotz Anerkennung im Grundgesetz und in den Landesverfassungen...." [So Paulus van Husen, der erste Präsident des Verfassungsgerichtshofes
und des Oberverwaltungsgerichts in Nordrhein-Westfalen].
Sind diese Befunde korrekt?
Funktionieren bei uns Gewaltenbalance und Bestenauslese?
Leben wir in einem Dauerkrieg beutegieriger Parteien um Macht und Posten?
Wohin gerät ein Land mit der Zeit, in dem es möglich ist, dass mittelmäßige Menschen immer
wieder erstklassige Positionen in den Leitungsebenen besetzen, weil die "Bestenauslese" im Übermaße die Folgewirkung ist eines
vereinsinternen, öffentlich unzureichend kontrollierten Machtgerangels innerhalb der politischen Parteien?
Und wohin treibt ein Land, in dem sich die Mächtigen die zu ihrer Kontrolle geschaffenen
Staatsorgane persönlich aussuchen und subtil beherrschen?
Für die von Jaspers und van Husen [siehe PERSONENINDEX] beklagte Schieflage gibt es eine
historische Erklärung: Die Verfasser des Grundgesetzes haben dem Volk als unmittelbar handelndem Souverän misstraut und deshalb
die Macht der politischen Parteien gestärkt [Art. 21 Grundgesetz].
Sie handelten inmitten von Trümmern und unter dem Schock der Erfahrung, dass das deutsche
Volk Adolf Hitler in freien Wahlen an die Macht gebracht hatte. Viele von ihnen hatten die dem Diktator zujubelnden Massen
noch vor Augen und die "Sieg Heil!"-Rufe in den Ohren. So führte, folgt man Karl Jaspers, der Schatten Hitlers zur Infektion
der jungen Demokratie mit dem Krankheitskeim einer allmählich von dem gesamten Staatswesen besitznehmenden Parteienvormundschaft.
Der Verfassungsgeber des Grundgesetzes wünschte sich aber eine Umgestaltung der deutschen
Staatswirklichkeit hin zum gewaltengeteilten Rechtsstaat, wollten neue Staatsstrukturen, die gewährleisten, dass die Macht
dem Recht unterworfen ist und dem Recht nachfolgt.
Zitat Dr. Adolf Süsterhenn, CDU, Rede vom 08.09.1948 vor der verfassungsgebenden Versammlung
(dem Parlamentarischen Rat):
"....Wir müssen wieder zurück zu der Erkenntnis, daß der Mensch nicht für den Staat, sondern der Staat für
den Menschen da ist. Höchstwert ist für uns die Freiheit und die Würde der menschlichen Persönlichkeit. Ihnen hat der Staat
zu dienen....Der Staat ist für uns nicht die Quelle allen Rechts, sondern selbst dem Recht unterworfen...Die Demokratie als
Herrschaft der Mehrheit, zu der wir uns unbedingt bekennen, ist allein noch nicht geeignet, die menschliche Freiheit zu sichern....Über
die Statuierung der Menschen- und Grundrechte hinaus fordern wir zwecks Sicherung der menschlichen Freiheit bewußt eine pluralistische
Gestaltung von Staat und Gesellschaft, die jede Machtzusammenballung an einer Stelle verhindert. Nach unserer Auffassung war
es das historische Verdienst Montesquieus, erkannt und verkündet zu haben, daß jede Macht der Gefahr des Mißbrauchs ausgesetzt
ist, weil jeder Mensch geneigt ist, wie Montesquieu sagt, »die Gewalt, die er hat, zu mißbrauchen, bis er Schranken findet«.
Aus dieser Erkenntnis heraus fordert Montesquieu die Teilung der Staatsgewalt in Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Rechtsprechung
und ihre Übertragung auf verschiedene, einander gleichgeordnete Träger. Diese Auffassung....wird von uns in vollem Umfang
als richtig anerkannt, wobei wir den besonderen Nachdruck auf die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Justiz legen......".
Das Versagen der Dritten Gewalt während der Nazizeit wurde in der amtlichen Begründung
des Grundgesetzes [vgl. DAS GRUNDGESETZ - Die Rechtsprechung] u.a. mit folgenden Worten kommentiert: "Die hinter uns liegenden
bitteren Erfahrungen erklären sich zu einem nicht unwesentlichen Teil daraus, daß die Richter mit einer schweren, soziologisch
und historisch bedingten Hypothek belastet waren, daß....der Richter auch nach der Trennung der Gewalten ein "kleiner Justizbeamter"
geblieben war. Schon seit langem....haben sich gewichtige Stimmen gegen diese Verbeamtung des Richters gewandt; man wollte
ihn statt dessen wieder als ersten Vertreter eines Ur-Berufsstandes, einer menschlichen Urfunktion angesehen wissen und einen
neuen Richtertyp schaffen, unabhängig von allen anderen Laufbahnen des öffentlichen Dienstes." Dies geschah nicht. Unter kosmetischen
Korrekturen verblieb es bei dem alten Status der Richter.
Die Vorstellung des Verfassungsgebers von einer realen und wirksamen Gewaltenteilung fand
ihren Ausdruck im Wortlaut des Grundgesetzes. Aber der deutsche Staatsaufbau blieb der alte, jetzt überformt von der Herrschaft
der Parteien, in denen Karl Jaspers eigennützige Vormünder des Staatsvolks sah, woraus er schlussfolgerte: Wo der eine wie
ein Vormund handelt, wird der andere nicht wie ein mündiger Bürger behandelt, denn das eine schließt das andere aus.
[Beispiele für eine - mancherorts seit Jahrhunderten - erfolgreich geübte mündige Bürgerschaft:
Unmittelbare Volkswahl der örtlichen Polizeichefs (USA); unmittelbare Volkswahl von Richtern (USA, Schweiz); unmittelbare
Volkswahl aller Parlamentsabgeordneten (z.B. Großbritannien, Frankreich, USA); unmittelbare Volkswahl der Mitglieder der Länderkammer
(Senatsprinzip - z.B. USA); unmittelbare Volkswahl des Staatsoberhauptes (z.B. Frankreich, USA, Afghanistan); Volksabstimmung
über die Verlagerung des Schwerlastverkehrs von der Straße auf die Schiene (Schweiz); Volksabstimmung über Gesetzesvorlagen
der Regierung (z.B. Schweiz, Kalifornien); Volksabstimmung über den Beitritt zu internationalen Vereinigungen (Polen, Norwegen
und viele andere); Volksabstimmung über die Abschaffung der nationalen Währung (Großbritannien, Dänemark und viele andere);
Volksabstimmung über die Verfassung der Europäischen Union (z.B. Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Irland, Luxemburg,
Niederlande, Polen, Portugal, Spanien, Tschechien).]
Die nach 1949 allgegenwärtigen Parteien verhinderten, dass die Staatsgewalt auf drei verschiedene,
einander gleichgeordnete Machtträger übertragen wurde und unterliefen dadurch den deutlich artikulierten Willen des Verfassungsgebers.
Die deutsche Justiz ist ein Teil des Geschäftsbereichs der Regierung geblieben, nach 1945 wie vor 1945, nach 1949 wie vor
1949. Bis zum heutigen Tage. Zitat Paulus van Husen: "Daß man trotzdem von unabhängigen Gerichten spricht, ist einfach eine
Verletzung der Wahrheit. Um so grotesker wirkt sich das alles bei den Verwaltungsgerichten aus. Der Kontrolleur ist wirtschaftlich
völlig in der Hand des Kontrollierten. Der Kontrollierte sucht sich die Richter aus, hält sie durch Beförderungsaussichten
und Dienstaufsichtsmittel in Atem, mißt ihnen jährlich die sachlichen Bedürfnisse zu."
Warum haben die Mächtigen der ersten Jahre nach 1949 eine Teilung ihrer Macht verhindert?
Aus Angst vor dem damaligen deutschen Volk?
Aus Angst vor einer im Nazi-Staat geprägten Richterschaft?
Oder scheiterte die strukturelle Umsetzung der Gewaltenteilungsidee einfach an den platten
Machtspielen des politischen Alltags?
Gleichviel wie die Antwort ausfällt stellt sich die Frage:
Soll es dabei bleiben?
Wenn heute nicht selten beklagt wird, dass die Bundesrepublik Deutschland in einer fortschreitenden
und tiefgreifenden Krise steckt, die auch und gerade etwas mit einem Fehlfunktionieren unserer Staatsordnung zu tun hat, ist
dann nicht die Frage überlegenswert:
Wenn wir die Gewaltenteilung künftig ernster nehmen, kann das deutsche Politik nicht demokratisch
berechenbarer und in der Sache auch besser machen?
Die Idee der Gewaltenteilung wurde unter anderen Verhältnissen in längst vergangenen Zeiten
geboren. Die menschliche Natur ist aber die gleiche geblieben und nur sie ist Urgrund der Gewaltenteilungslehre, die deshalb
zeitlos modern ist: "Der in Wahrheit fortgeschrittenste Gedanke kann ein historisch weit zurückliegender sein, aber gerade
deshalb noch eine Zukunft haben" [Karl Löwith].
Quellenangabe: gewaltenteilung.de